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Ironie im instrumentalen Cantabile bei Schubert:

zur Charakteristik des Impromptu Op.90 Nr.4

SHIRAISHI Tomoo

in: Ko Tanimura, Osamu Yamaguti(eds.), Musics beyond cultural boundaries: in honour of professor Dr Christoph-Hellmut Mahling, for his visit to Japan in 1989, Tokyo, Mita Press, 1990, pp.97-104.


Inhalt

Es gibt viele Schriften über Schubert und seine Musik, aber bis jetzt konnte kaum jemand die Originalität seiner Musik in jedem einzelnen Werk mit konkreten Analyse-Ergebnissen nachweisen. Man muß also einen induktiven Weg begehen, um das Spezifische seiner Musik zu erklären. Wenn man einige typische Wesenszüge in jedem einzelnen Werk durch Analyse freilegen könnte, so würde es möglich, die Merkmale zu entdecken, die allen seinen Werken eignen. Das typisch Schubertische an seiner Musik könnte dann exakt beschrieben werden. Der vorliegende Aufsatz gehört zur ersten Stufe dieses induktiven Wegs, indem ich versuchen möchte, die Charakteristik des Impromptu Op.90 Nr.4 in den Griffen bekommen.

1. Formale Gliederung

Dieses Impromptu besteht aus drei Abschnitten; Hauptabschnitt (T.l—106), Trio (T.107-170) und der Reprise des Hauptabschnitts (T. 171-275).

Hauptabschnitt und Trio sind je dreiteilig gegliedert.

Hauptabschnitt
T.1-30A-Teilas-moll/Modulation/as:D
T.31-79B-TeilAs-dur/Modulation/As:D7
T.80-106B‘-TeilAs-dur/Des:D7(=cis:D7)
Trio
T.107-122C-Teilcis-moll/gis-moll
T.123-138D-Teileis-moll
(Aber die Tonika ist ausgeschlossen.)
T.139-170C‘-TeilCis-dur/cis-moll/Modulation/as:D7

Hauptabschnitt - Trio - Reprise des Hauptabschnitts, (ABB‘-CDC‘-ABB‘) - dieses Schema hat als Vorbild wohl das Menuetts: Menuett Trio - Reprise des Menuetts (ABA‘-CDC‘-ABA‘).

2. Hauptabschnitt

Dieses Stück beginnt mit zwei gegensätzlichen Elementen: "Arpeggio-Material" und "Cantabile-Material". Das "Arpeggio-Material" (ich spreche einfachheitahalber nicht von figurierten Akkorden, sondern von Arpeggien) besteht aus dem absteigenden Sechzehntel-Arpeggio in der rechten Hand und der rythmischen Begleitung in der linken Hand. Anderseits besteht das "Cantabile-Material" aus sechs Viertel-Akkorden, deren jeweils höchste Töne eine melodische Linie bilden. Sie steigt eine Quarte auf und bewegt sich dann schrittweise abwärts.

Im A-Teil sind je zwei Wiederholungen des Arpeggio-Materials und das jeweils folgende Cantabile-Material zu einer Taktgruppe - und zwar als Barform (aab) - zusammengefaßt (T.l-6, T.7-12, T.13-18 und T.19-30).

Wir finden in diesen vier Taktgruppen eine "freie Entfaltung" des Cantabile. Das Arpeggio in jeder Taktgruppe tendiert dazu, alles zu ordnen; es dauert immer zwei Takte und wird immer zweimal genau gleich wiederholt (2+2=4: T.l-4, T.7-10, T.13-16 und T.19-22). Das Cantabile versucht anderseits, von etwas Geordnetem abzuweichen und freiwillig zu singen. Zwar das Cantabile dauert bei den ersten drei Taktgruppen als Zweitakter kürzer als die viertaktige Arpeggio-Phrase (T.5-6, 11-12 und 17-18) - Es ist als ob das Cantabile zu früh schweigen müsszzte. Aber bei der letzten Taktgruppe dauert die Cantabile-Phrase mit ihren acht Takten gerade doppelt so lang wie die Arpeggio-Takte und entfaltet schließlich ihre freie Wille (T.23-30). Außerdem sind diese acht Takte in sich selbst ein achttaktiger Satz (T.23-24: zweitaktiges Modell, T.25-26: zweitaktige Sequenz und T.27-30: viertaktiger Entwicklungsteil).

Das Freie des Cantabile zeigt sich auch in der harmonischen Anlage des A-Teils (Beispiel 1). Das Arpeggio ruht auf einer harmonischen Stufe. Aber das Cantabile gefärdet sich so, als wäre es mit der harmonischen Stabilität des Arpeggio unzufrieden. Auch wenn das Cantabile auf der gleichen harmonischen Stufe wie das Arpeggio bleibt, enthält das Cantabile scharfe Dissonanz (Dominantnonenakkord in T.5 und T.17), oder opponiert mit einer anderen harmonischen Stufe (T.10-11 und T.23-30).

Sein freies Verhalten führt aber harmonisch zu einer ironischen Konsequenz. Das Cantabile kehrt schließlich zu as-moll - zur Tonart, mit der das Arpeggio das Stück beginnt - zurück! Der achttaktige Cantabile-Satz ist also gleichzeitig eine freie Entfaltung und einer ironische Rückkehr.

Im folgenden B-Teil setzt das Arpeggio auf einer neuen Stufe, auf As-dur, ein (T.31ff). Die zweimaligen Wiederholungen des harmonisch sich öffnenden, zweitaktigen Arpeggio (T.31-34 und 35-38) wenden sich in die einem Ganzschluß endende, viertaktige Kadenz (T.39-42 und 43-46). Motivisch wird das bisherige zweitaktige Arpeggio zu einem eintaktigen Motiv verkürzt, und das eintaktige Motiv wird viermal wiederholt. Harmonisch bilden diese vier eintaktige Motiven eine in sich geschlossene Kadenz.

Dann fällt ein Gesang, der eigentlich aus eintaktig verkürzter Version des Cantabile-Materials besteht, in die linke Hand der viertaktigen Arpeggio-Kadenz (T.47ff: Beispiel 2-b).

beispiel 2

Der Verlauf des Gesangs in T.47-64 ist ein groß angelegter Satz mit Modell (T.47-50), Wiederholung (T.51-54) und Entwicklungsteil (T.55-64).

In Diesem "durchführungs-artigen" Satz wird der Gesang immer freier. Die Takte 47—50 sind zwar harmonisch in sieh geschlossen, aber im Rythmus und im Linienverlauf bewahrt der Gesang der linken Hand seinen freien Willen; Er bewegt sich mit dem die zweite Taktzeit akzentuierenden, vorwärtsbestreibenden Rythmus und vermeidet dabei einen geschlossenen melodischen Bogen (aufsteigender Einsatz - absteigende Endung), indem er mit aufwärts richtetem Sprung sowohl beginnt (es-as) als auch endet (c-es). Überdies bleibt sein Endton auf der Dominante, und nicht auf der Tonika.

Bei der Wiederholung des Modells wird die Gestalt des Gesangs noch offener (T.54: [Notenbeispiel], statt [Notenbeispiel] wie in T.50). Es zerfällt die harmonische Einheit der viertaktigen Kadenz durch eine zweitaktige Abspaltung (T.55-56) und die Passage moduliert von As—dur über b-moll (T.57-60) nach Des-dur (T.6lff).

Dann bricht der Gesang in T.64 ab, und das gebliebene Arpeggio bestätigt die erreichte Tonart-Ebene (As:S D9 D7) und leitet ein auskomponiertes Ritardando ein (T.64-71).

Danach erscheint der Gesang wieder als eine befreite Cantilene (T.72-79:

Beispiel 3

Thematisch ist diese Cantilene die neue, dritte Version des Cantabile-Materials. Sie tritt mit einer neuen Begleitfigur auf und die Melodie erscheint - zum erstmal im B-Teil - in der Oberstimme. Außerdem ist die Oberstimme in einen periodischen Bogen gefaßt (T.72-75/76-79).

Allerdings dauert die Ruhe dieser Liedzeile nicht lang und sie will auch nicht schließen. Sie ist eine Enklave nicht nur im B-Abschnitt sondern auch im ganz quirligen Hauptabschnitt. Sie verschwindet gleichsam zu früh, als ob die richtige Entfaltung der Cantabilität später dem Trio - dem von der Haupt-Lebendigkeit befreiten Raum - vorbehalten wäre.

Nach diesem kurzen "Voranzeige des Trios" erscheint also wieder das Cantabile (als die zweite, eintaktige vorwärtsbestreibende Version) mit dem Arpeggio-Material (T.80ff). Die Takte 80-97 sind eine Wiederaufnahme der Takte 39-56, aber im T.98 bleibt der Gesang auf As-dur stehen. Wegen dieser veränderten Harmonie kann die folgende Passage die Tonika bestärken.

3. Trio

Während im Hauptabschnitt zwei gegensätzliche thematische Materialien auftreten, erscheint im Trio nur eines, und zwar eine melodische Linie in der Oberstimme mit einer Achtel-Repetition von Begleitakkorden.

In der Oberstimme des Trios gibt es eine Verwandtschaft mit den Cantabile-Material des Hauptabschnitts, vor allem mit den Takten 7279 (Beispiel 4);

Beispiel 4

In T.111-114 kann man das Merkmal des Cantabile - den Sext-Sprung und den schrittweisen Abstieg - finden. Überdies erscheint ein Vorhalt nach dem Sext-Sprung auch hier, wie in T.72-79. (Die Beziehung wird in der Reprise im Trio noch klarer, weil die Phrase wie im Hauptabschnitt in Dur gesetzt ist.) Die Situation des Trios ist also sehr ähnlich derjenigen in T.72-79, in dem Sinne, daß eine melodische Linie, die vom Cantabile-Material stammt, ohne das Sechzehntel-Arpeggio auftritt.

War die Cantilene in T.72-79 eine Idylle als eine Voranzeige des befreiten Trios, so klingt nun aber die Oberstimme im Trio ironisch. Sie versucht immer wieder, aufzusteigen, aber jeder Aufstieg bildet eine scharfe Dissonanz zum Baß. Also wird die Oberstimme gezwungen, abzusteigen. Diese ironischen Harmonisierungen erscheinen überall im Trio: T.109-110 und T.117-121 im C-Teil; T.123-125, T.127-129, T.131-133 und 135-137 im D-Teil.

Beispiel 5

Mit dem Dur des C‘-Teils scheint für kurze Zeit eine "Heilung des Schmerzes" zu kommen. Vorallem die Takte 151-154 wirken wie froher und hoffnungsvoller Gesang. Doch was im T.153 als Dominante in D-dur klingt, ist ein übermässzziger Quintsextakkord, der in die Dunkelheit von cis-moll zurückführt. Die Forzatissimi Takte 155 und 156 sind wieder Ausdruck großen Schmerzes.

4. Reprise des Hauptabschnitts

Nach dem Trio wird der Hauptabschnitt ohne Änderung wiederholt (T. 171-275).

Wir können auch diese Wiederaufnahme des Hauptabschnitts als Ironie auffassen, weil hier gleichsam die ganzen Befreiungsversuche im Trio rückgängig gemacht werden.

Unter dieser Interpretation können wir die ganze Verlauf dieses Stücks als Folgenden auffassen; Im Hauptabschnitt versucht das Cantabile immer wieder vom Arpeggio-Material loszukommen. Dann erreicht es im Trio die Befreiung vom Arpeggio. Aber die Befreiung bringt dem Gesang keine Freude, und so wendet sich das Geschehen zum Hauptabschnitt zurück.

5. Schluß

In diesem Stück haben wir verschiedene Verläufe als Ironie aufgefaßt: Die Rückkehr des Cantabile im A-Teil, die Harmonisierungen der Oberstimme im Trio, das Scheitern der "Dur-Heilung" im C‘-Teil und die Wiederaufnahme des Hauptabschnitts, wo gleichsam die ganzen Befreiungsversuche im Trio rückgängig gemacht werden. Anffällig ist, daß ironisches Verhalten immer in der Entfaltung des Cantabile-Materials zu finden ist. Zwar haben wir hier noch nicht feststellen können, ob diese Ironie im Cantabile ein allgemeines Merkmal der Schubertschen Musik, oder nur das Eigentümliche dieses Stücks ist. Aber es ist befriedigend als das Ergebnis der ersten Stufe der induktiven Weise dieser Studie, daß wir eine spezifische Moment von einem Werk analytisch abstrahieren konnten.


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